Zugegeben: Ich bin in gewisser Weise ein Biker vom alten Schlag. Klar, Trails sind wir auch in grauer Vorzeit schon gerne gefahren, sprich in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Aber im Vordergrund stand und steht bis heute stets das klassische Tourenfahren. Aus eigener Kraft, wenn man so will. Genau damit hat mich Livigno aber letztlich überzeugt. Denn der berühmte Skiort im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Italien kann beides bieten: Unzählige Kilometer an Trails, sowohl natürliche als auch gebaute, und dazu die freie Wahl der Aufstiegsmöglichkeiten. Entweder mit Hilfe von Seilbahnen oder eben klassisch im Sattel. Wobei das Tourenangebot zusätzlich zu den Bikepark-Strecken im Skigebiet zu betrachten ist. Oder man kombiniert eine Gondel-Auffahrt mit einer Tour, die anschließend weit ab des kommerziellen Trubels verläuft. Die Möglichkeiten sind grenzenlos, im wahrsten Sinne des Wortes.

Generationswechsel

Nicht nur die Jugend steht auf flotte Kurven

Für Skifahrer und Snowboarder ist Livigno seit Ewigkeiten das Freeride-Paradies schlechthin. Aber als im Jahr 2015 der gigantische Carosello Bikepark eröffnet wurde – und das zusätzlich zum bereits etablierten Mottolino Bikepark auf der anderen Talseite – stieg der Skiort endgültig auch für Mountainbiker in die oberste Liga auf. Warum, das wird klar, als wir einen Blick aus der Gondel werfen, in der wir gerade zum Gipfel des Carosello 3000 schweben. Wie Schlangen winden sich Pfadtrassen über die gigantischen Hänge. Mal wie ein Korkenzieher gezwirbelt, mal in direkter Falllinie, oder auch in raumgreifenden Diagonalen. Integriert sind immer wieder kleine Jumps, Anlieger und Wellen. An der Übersichtskarte vor der Bergstation wird das ganze Ausmaß des Trail-Netzwerks greifbar. 16 Strecken verschiedener Schwierigkeitsgrade warten im Carosello darauf, entdeckt zu werden. Wobei drei davon – markiert mit schwarzen Rauten – den echten Experten vorbehalten sind: Enduro, The Bomb und Black Hill. Die roten und blauen Kurse, soviel vorweg, sind hingegen für Fahrer und Fahrerinnen mit solider Fahrtechnik allesamt ein Genuss. Selbst Einsteiger finden am Carosello ihre Spielwiesen. Die 14 Strecken im gegenüberliegenden Mottolino Park sind mit zwei blauen, sechs roten und sechs schwarzen Trails insgesamt etwas anspruchsvoller.

Jung und Alt in freudiger Erwartung
Vorfahrtsregeln beachten!

Trails, Lifte, Spaß – dass dieses Konzept besonders bei der jungen Generation ankommt, kann ich deutlich am Gesichtsausdruck meiner 16-jährigen Tochter erkennen: Eine Mischung aus breitem Grinsen und freudiger Erwartung. Bei mir überwiegt zugegebenermaßen (noch) die Anspannung. Nach Studium des Fahrplans fällt unsere Wahl auf den blauen Coast to Coast Trail. Man sollte es schließlich ruhig angehen lassen. Beunruhigend hingegen ist, dass ich vorne fahren soll. Anscheinend ist es mit dem Mut bei der Jugend doch nicht so weit her. Papa wirds schon richten. Aber bereits nach den ersten Metern ist klar, dass es keinen Grund zur Panik gibt. Keine Frage, hier waren Trailbau-Profis am Werk. Mit einem perfekten Gefälle wurde die Pfadspur in den Hang modelliert. Jede Kontur des Terrains ausnutzend schwingen wir uns zum nächsten Lift. Wartezeiten gibt es kaum, und wenn, dann sind sie eher willkommene Ruhepausen als nervige Drängeleien. Alles gechillt – findet Pauline.

Achterbahn der Gefühle

Übungsparcours im Carosello Bikepark

Mit jeder Abfahrt agieren wir mutiger, drücken das Bike vehementer in die Anlieger, nehmen jede Welle mit Schwung. Hier und da ein kleiner Hüpfer, auch wenn die Pro‘s darüber lächeln dürften, egal, Hauptsache Spaß. Die Anlage der Trails ist wirklich ein Traum. Meine Befürchtung, ständig in den Bremsen stehen zu müssen, hat sich längst in Wohlgefallen aufgelöst. Denn meist nimmt vor einer Schikane eine Gegenwelle im richtigen Moment automatisch Tempo heraus. Daher entstehen auch kaum nervige Waschbrettrippen vor Kurven. Die Trails von Livigno zelebrieren Flow in seiner schönsten Form. Gipfel der Genüsse ist für uns der Rollercoaster Trail, der seinem Namen alle Ehre macht. Am Ende des Tages stehen fast 8000 Tiefenmeter auf der Uhr. Und das Grinsen in unseren Gesichtern spricht Bände.

Park & More

Der Sentiero del Monte Pedenolo schraubt sich in schwindelnde Höhen

Richtig interessant ist Livigno aber auch für Biker, die nicht jeden Tag im Park herumdüsen wollen. Denn das Revier bietet zum einen viele Kombi-Möglichkeiten von Bahn und Touren. Und zum anderen kommen auch diejenigen auf ihre Kosten, die im klassischen Sinn ganz ohne Aufstiegshilfen Touren fahren wollen. Besonders die Bergregion östlich des Hochtals, also zwischen Livigno und Bormio, ist überzogen von einem einzigartigen Trailnetz. Grundlage bilden zahlreiche Versorgungspisten zu den drei großen Stauseen in den Seitentälern: San Giacomo, Cancano und Lago di Livigno. An ihren Ufern entlang führen fahrtechnisch einfache Schotterwege, die nahezu epische Panoramen bieten. Im Gegensatz dazu stehen Pfade über die Bergpässe und Hochalmen, die das Herz jedes Enduro-Tourenfahrers höher schlagen lassen. Klingende Namen wie Passo Trela, Alpisella oder Alpe del Gallo. Legendär ist auch der Sentiero del Monte Pedenolo, ein alter Militärpfad vom Lago di Cancano über die Bocchetta di Forcola und weiter zu Umbrailpass und Stilfserjoch. Unsere Tourentipps:

Diese Trails machen auch bergauf Spaß
Unendliche Weiten am Passo Trela

Passo Trela

Der Klassiker in der Region mit einem überragenden Finale. Theoretisch könnte man sich die ersten 15 Kilometer bis zum Passo Foscagno shutteln lassen. Aber ein echter Tourenfahrer nutzt die Straße über den Passo Eira zum Foscagno natürlich zum Einrollen. Keine Angst, das Trail-Festival startet kurz nach der italienischen Grenze an der Passhöhe. Ein herrlicher Waldpfad schwingt sich auf und ab zur Alm Pian Vezzola. Anstrengende Trail-Auffahrt zur Bocchetta Trelina und Abfahrt zur Baita di Trela (Einkehrmöglichkeit). Der letzte Anstieg zum Passo Trela ist kurz und knackig. Am Scheitelpunkt beginnt ein herrlicher Downhill, der erst am Ufer des Lago di Livigno endet.

Tour Daten

Länge: 34,7 km
Höhenmeter: 1160 m
Höchster Punkt: 2300 m
Start: Kreisverkehr nahe der Mottolino Talstation (Via Bondi)
Wegbeschaffenheit: Straße, Schotter, Pfade (ca. 50%)

Neve Panoramatrail

Die Tour startet an der Bergstation der Mottolino Seilbahn. Wer also einen Liftpass für den Mottolino-Bikepark hat, kann sich die Auffahrt über die Straße (Passo Eira) zum Mottolino Gipfel sparen. Dort nimmt man den Enduro Natural Trail am Hang entlang in Richtung Süden, den man aber an der Talstation des Planon Skilifts geradeaus wieder verlässt. Nach kurzer Abfahrt folgt man dem Panorama-Wanderweg, stets weiter am Hang des Monte della Neve entlang. Sagenhafte Aussicht, aber auch einige Gegenanstiege bis zur kleinen Moton Hütte (Rastmöglichkeit). Hier startet die technisch teilweise anspruchsvolle Trail-Abfahrt hinunter ins Tal von Livigno. Letztes Highlight ist der Tresenda-Trail.

Tour Daten

Länge: 22,2 km
Höhenmeter: 740 m
Höchster Punkt: 2383 m
Start: Kreisverkehr nahe der Mottolino Talstation (Via Bondi)
Wegbeschaffenheit: Straße, Schotter, Pfade (ca. 50%)

Infos Livigno

Biker sind in Livigno willkommene Gäste
Pasta al Pomodoro hilft garantiert durchs 11-Uhr-Loch

Das Hochtal von Livigno liegt auf rund 1800 Metern zwischen dem schweizerischen Engadin und der italienischen Region Bormio. Aufgrund der zollfreien Zone ist das Preisniveau allgemein sehr moderat. Zum Beispiel kosten Tageskarten für die Bikeparks Carosello oder Mottolino rund 40 Euro. Einziger Wermutstropfen: Livigno liegt weit ab vom Schuss und die Anfahrt übers Unterengadin ist ziemlich strapaziös. Rund vier Stunden benötigt man alleine von München bis ins Bikeparadies. Hinzu kommen die Mautgebühren durch den privaten Munt-La-Schera-Tunnel. Die alternativen Zufahrtsmöglichkeiten über Berninapass/Forcola die Livigno und Bormio/Passo Foscagno sind zwar gratis aber noch deutlich umständlicher.

Infos
www.livigno.eu/de/bike-ferien
www.carosello3000.com
www.mottolino.com

Tipp: Mit Hilfe der kostenlosen My Livigno App erhält man stets aktuelle Infos über sportliche Aktivitäten/Einrichtungen, Hütten und Restaurants.

Unterkunft: Von Hotel bis Campingplatz bietet Livigno zwar ein großes Angebot an Unterkünften. Es gilt aber zu bedenken, dass der Ort aufgrund seines Zollfrei-Status generell gut besucht ist, besonders natürlich im Juli/August. Camper-Tipp: Der Wohnmobil-Stellplatz auf dem Passo Eira, mit Entsorgungsmöglichkeit und Frischwasserbrunnen. Freie Plätze findet man ehesten Vormittags.

Unsere Tipps fürs richtige Bike

Auch wenn viele Trails recht flowig sind, vor allem in den Parks, ist ein Hardtail für dieses Revier sicher nicht die beste Wahl. Wir empfehlen mindestens ein All Mountain Fully mit 140 bis 150 Millimetern Federweg. Wer auch Touren außerhalb der Parks fahren will, sollte auf eine bergtaugliche Übersetzung achten. Maximalen Fahrspaß und Komfort bieten Fullys aus der Enduro-Klasse mit 160-Millimeter-Fahrwerk und darüber. Bein- und Armprotektoren nicht vergessen!

Hinweis
Der Autor hat die Touren selbst durchgeführt und nach bestem Wissen aufbereitet. Zustand und Wegbeschreibung (GPS-Track) entsprechen dem Tag der Befahrung. Alle Angaben dennoch ohne Gewähr. Jegliche Haftung wird ausgeschlossen.